Der „Schandarm“
Mitte der 1950er-Jahre, Wittlich
In Wittlich gab es nur einen Polizisten. Jedenfalls in meiner Wahrnehmung. Nennen wir ihn Wachtmeister Schulze; Zeitzeugen wissen seinen richtigen Namen. Bestimmt gab es noch mehr Polizisten, aber die waren dann eher unauffällig.
Wachtmeister Schulze jedoch (vielleicht war er auch Ober- oder gar Hauptwachtmeister?) war nicht zu übersehen, wenn er in seiner martialisch anmutenden schwarzen Gendarmenuniform, dem an der Seite baumelnden Schlagstock und dem charakteristischen Tschako, dem damaligen Polizeihelm, in der Stadt unterwegs war. Er war für alle der "Schandarm".
Schandarm Schulze war gefürchtet. Besonders von uns Kindern. Wenn er gesichtet wurde, waren wir alle ganz brav und vermieden es, irgendwie aufzufallen.
Unser bevorzugter Spielplatz war ein kleiner flacher von einem Buschwald
eingegrenzter Uferstreifen an der Lieser, der über eine schmale Steinbrücke von der
Himmeroder Straße aus erreichbar war. Ein idealer Ort für Winnetous und Old Shatterhands
oder Räuber und „Schandarme". Oder zum Fischen, was zu unserem Leidwesen verboten war.
Denn: In Ufernähe tummelten sich Unmengen von kleinen Fischchen, die einmal Forellen oder Äschen oder Schmerlen oder Döbel werden wollten. Es erforderte großes Geschick, Ausdauer und volle Konzentration, die kleinen, wendigen, silbern glänzenden Dinger mit der Hand fangen zu können.
Die Konzentration war es dann auch, die uns zum Verhängnis wurde, weil wir nicht bemerkt hatten, dass plötzlich der „Schandarm“ hinter uns stand.
Die Gefühle, mit denen wir hinter dem „Schandarm“ hertrotteten, muss ich hier nicht
beschreiben.
Es waren nur ein paar hundert Meter bis wir die ersten Häuser erreichten. Beim zweiten
oder dritten drangen Stimmen aus einem offenen Fenster. Drinnen saßen ein paar Männer
beim Kaffee (oder Schnaps?), der „Schandarm“ schaute hinein und unterhielt sich kurz.
Mit dem Befehl
Wir warteten und warteten. Bis der Mutigste von uns flüsterte
Es dauerte einen kurzen Moment der Überlegung bis der Nächsmutigste
Ich möchte wetten, dass der „Schandarm“ drinnen gesagt hat
———
Der „Tatort“ auf Google Maps:
49°59'14.9"N 6°53'03.7"E